Die gemäßigte Politik der Hamas im Gazastreifen: Ein Ausweg aus der Spannung, die zwischen dem Dschihad-Charakter der Hamas und pragmatischen Erwägungen herrscht, in deren Zentrum der Herrschaftsanspruch und die Angst vor israelischen Abschreckungsmaßnah

Bedrohung der israelischen Zivilbevölkerung durch Raketenbeschuss  aus dem Gazastreifen

Bedrohung der israelischen Zivilbevölkerung durch Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen

Die Identität als Sicherheitskraft: Muhammad Zaher al-Kilani in der Uniform der Seepolizei (khtwa.com)

Die Identität als Sicherheitskraft: Muhammad Zaher al-Kilani in der Uniform der Seepolizei (khtwa.com)

Die Identität als Terrorist: Foto von Muhammad Zaher al-Kilani auf der Internetseite der Qassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas.

Die Identität als Terrorist: Foto von Muhammad Zaher al-Kilani auf der Internetseite der Qassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas.

Fathi Hamad (links), Innenminister der Hamas-Regierung, an der Seite von Ismail Haniyya (rechts) bei der Beisetzung von Muhammad Zaher al-Kilani (paldf.net)

Fathi Hamad (links), Innenminister der Hamas-Regierung, an der Seite von Ismail Haniyya (rechts) bei der Beisetzung von Muhammad Zaher al-Kilani (paldf.net)


Zwänge und Überlegungen, die die Politik der Hamas-Angriffe beeinflussen

1.    In den dreieinhalb Jahren seit der Operation "Gegossenes Blei", leitet die Hamasbewegung im Gazastreifen eine gemäßigte Angriffspolitik, deren Merkmale sich von den Angriffen unterscheiden, die der Operation vorausgegangen waren. Diese Politik versucht, im Raum zwischen dem Dschihad- und Islamcharakter der Hamas und den Zwängen bzw. Überlegungen zu manövrieren, die die Politik der Hamas in die Richtung einer pragmatischen Politik beeinflussen.

2.    Unserer Einschätzung nach sind die Hauptgründe der Zwänge und Überlegungen, die die Politik der Hamas-Angriffe im Gazastreifen beeinflussen, wie folgt:

A.    Die Ideologie.Die Hamas ist vom Wesen her eine radikale islamische Bewegung, ein palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft, in der der Dschihad und der "Aufstand" eine zentrale Identitätskomponente sind. (Das spiegelt sich in der Hamas-Konvention von 1988 wider; wurde häufig in den Aussagen von Hamas-Führern erwähnt und seit vielen Jahren in terroristische Aktivitäten umgesetzt). Der Weg von Dschihad und Aufstand wird von Seiten der Hamas als wichtigstes Instrument zur Förderung ihrer strategischen Ziele nebst anderen, zweitrangigen Mitteln verstanden, z. B. die politische Aktivität oder der "Volkswiderstand" (die von Seiten der Palästinensischen Behörde gefördert werden). Im Zentrum der strategischen Ziele der Hamas stehen die "Befreiung Palästinas" vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss, die Liquidierung des Staates Israel; die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge nach Israel und die Errichtung eines palästinensischen Staates mit islamischem Charakter.

B.    Der Herrschaftsanspruch.Seitdem die Hamas die Macht im Gazastreifen übernommen hatte (2007) steigt die Bedeutung des Herrschaftsanspruchs. In anderen Worten: Es geht um die Erhaltung und Konsolidierung ihrer Herrschaft und Kontrolle im Gazastreifen als Stadium auf dem Weg zur Übernahme der gesamten palästinensischen Führung. Diese Überlegung, die ein pragmatisches Handeln diktiert, zwingt die Hamas zur Berücksichtigung der Bedürfnisse von 1,5 Millionen Einwohner, die im Gazastreifen leben. Darüber hinaus muss sie praktische Lösungen für deren tägliche wirtschaftliche Problemen bieten (dafür ist die Energiekrise, mit der sich die Hamas seit geraumer Zeit befasst, ein gutes Beispiel).

C.    Zusätzliche Zwänge.Zu den oben erwähnten kommen weitere Überlegungen hinzu, wie z. B. die Stärke der israelischen Abschreckung nach der Operation "Gegossenes Blei". Diese steigerte das Interesse der Hamas, eine militärische Konfrontation mit Israel unter den gegenwärtigen unbequemen Umständen zu vermeiden. Eine weitere Erwägung der Hamas ist Zeit zu gewinnen, um ungestört militärisch aufrüsten zu könnte, mit dem Ziel einer verbesserten Angriffsfähigkeit der israelischen Zivilbevölkerung durch Raketen mit großer Reichweite.

Merkmale der Terroranschlagspolitik der Hamas

3.    Als Folge aus der Spannung zwischen der Ideologie und den gemäßigten Überlegungen, eignete sich die Hamas nach der Operation "Gegossenes Blei" eine gemäßigte Angriffspolitik an, die sie den anderen terroristischen Organisationen in unterschiedlicher Art und Weise entschlossen aufzuerlegen versucht. Die wichtigsten Merkmale dieser Politik sind wie folgt:

A.    Beschränkung der Raketenbeschüsse auf Israelbei gleichzeitigem Ignorieren sporadischer Beschüsse seitens verschiedener Organisationen. Die Hamas nimmt zwar an den gelegentlichen Raketenangriffen nicht Teil. Sie verhindert sie jedoch nicht mit Entschlossenheit und trägt dazu bei, dass diese in der Tat auf Dauer fortgeführt werden. Die Organisationen, die den sporadischen Beschuss führen, sind der islamische Dschihad in Palästina (die die Stelle der Hamas als führende Organisation im Raketenbeschuss eingenommen hat), das Volkswiderstandskomitee, einige Fatah-Zusammenschlüsse und salafistische Elemente, die sich mit der al-Qaida identifizieren.

B.    Die verschiedenen terroristischen Organisationen verfolgen auch eine "Routine" von Angriffsversuchen entlang der Grenze (Verlegung von Sprengsätzen, Scharfschütz-, Mörser- und Gegenpanzerraketenbeschuss, usw.), ohne jedoch herausragende "Qualitätsangriffe" auszuführen.

C.    In der letzten Zeit vermeidet die Hamas an der jüngsten Eskalationsrunden teilzunehmen, die sich alle paar Monate wegen der anhaltenden Angriffe aus dem Gazastreifen entwickeln (in der letzten Runde, im März 2012, fielen über 170 Raketen auf israelisches Gebiet). In den letzten Runden überließ die Hamas dem islamischen Dschihad in Palästina die Führung und geriet daher in interne und externe Kritik. Bei dem islamischen Dschihad in Palästina diktieren die Dschihad motivierten Überlegungen und die stärkere Abhängigkeit vom Iran eine Beschusspolitik, die weniger gemäßigt ist als diejenige der Hamas. Die Organisation hat aber Bereitschaft gezeigt, sich mit der Hamas "auszugleichen" und eine Eskalation mit Israel zu vermeiden. Dies erfolgt auf Grund von Vereinbarungen, die zwischen den Organisationen bestehen und das "Recht" des islamischen Dschihad in Palästina erhalten auf israelische Angriffe gegen seine Aktivisten im Gazastreifen zu reagieren.

4.    Die eingeschränkte Dosierung des Raketenbeschusses und der Grenzvorkommnisse, die eine gezielte israelische Reaktion nach sich ziehen, werden unserer Meinung nach von Seiten der Hamas so betrachtet, dass eine fragile jedoch lang anhaltende Ruhe eingehalten werden kann ohne dass sie sich in einen größeren Konflikt hineinziehen lassen muss.

5.    Die Hamas versucht, ihre gemäßigte Politik den "rebellischen" Organisationen aufzuerlegen. Sie tut es jedoch nicht immer in derselben Beharrlich- und Hartnäckigkeit, die sie bei der Verteidigung der ihr wichtigen Interessen charakterisieren. Die Hamas versucht darüber hinaus, eigene Terroranschläge mit "niedrigerem Profil" zu fördern und sie ermöglicht es auch anderen terroristischen Organisationen, sporadische Angriffe mit "niedrigerem Profil" auszuführen, die kein "Signum" einer bestimmten Organisation tragen. Diese Politik manifestiert sich u. a. durch Aufspüren von Umwegen, israelisches Gebiet von der Sinai-Halbinsel aus anzugreifen (die "Het"-Route) und von dort aus gegen Israel zu agieren (Raketenbeschuss, Angriff auf israelische Ziele nahe der Grenze und das Eindringen ins Landinnere Israels). Hamas und die anderen Organisationen achten darauf, diese Vorgehensweise zu vertuschen und leugnen deren Existenz sogar manchmal ab, um sich nicht israelischen Reaktionen auszusetzen und ihre Beziehungen zu Ägypten nicht zu erschweren.

6.    Diese gemäßigte Politik, ermöglichte der Hamas und den anderen terroristischen Organisationen seit der Operation "Gegossenes Blei" Zeit zu gewinnen, die zur Sanierung des Gazastreifens und zu einem beschleunigten militärischen Aufrüstungsprozess genutzt wurde. Dieser Aufrüstungsprozess führte dazu, dass die Hamas und die anderen Organisationen seit der Operation "Gegossenes Blei" die Anzahl der Raketen in ihrem Besitz verdoppelten (die meisten von ihnen aus dem Iran geliefert wurden) und deren Qualität verbesserte. Heutzutage besitzen die Hamas und die anderen terroristischen Organisationen im Gazastreifen ein paar tausend standardmäßige und selbstgebaute Raketen mit verschiedenen Reichweiten. Unter diesen befinden sich auch iranische Artillerieraketen des Models "Fadschr-5", die eine Reichweite von 75 km haben und das Zentrum des Staates Israel treffen könnten. Diese Raketen wurden jedoch bis heute noch nicht eingesetzt.

Die Durchsetzung der gemäßigte Schießpolitik der Hamas durch die internen Sicherheitsmechanismen

7.    Die Hamas unterhält eine breite Palette von internen Sicherheitsmechanismen, die die Verantwortung für die Durchsetzung seiner Angriffspolitik gegen Israel tragen. An deren Spitze steht seit 2009 der Innenminister Fathi Hamad, der kürzlich (April 2012) zum Mitglied des politischen Büros der Hamas gewählt wurde.

8.    Fathi Hamad drückt durch seine Vorgehensweise die Verknüpfung zwischen der gemäßigten Politik und der Förderung des Terrorismus als auch diejenige aus, die zwischen einer politischen bzw. Regierungs- und Militärhandlung herrscht:

A.    Die Anordnung der internen Sicherheitsmechanismen unter seiner Führung legt den anderen terroristischen Organisationen die gemäßigte Politik der Hamas auf, obwohl dieses nicht immer mit der entsprechenden Entschlossenheit geschieht. Aus diesem Grund wurde vor einigen Monaten die Fathi Hamad untergeordnete Sicherheitseinheit gebildet, die sich "Sicherheitskraft zur Gebietsbeherrschung" (Qouwwat Dubat al-Midan) nennt. Diese Einheit besteht aus etwa 300 Personen, die gegen die Schützen agieren und deren Waffen beschlagnahmen.[1]

B.    Gleichzeitig ist Fathi Hamad hinter den Kulissen an militärisch-terroristischen Aktivitäten beteiligt, die er streng geheim hält. Er steht nämlich an der Spitze einer Terrororganisation namens "al-Aqsa Beschützer", die von der Hamas gegründet wurde. Diese initiiert "Qualitätsangriffe" gegen Israel mit "niedrigerem Profil". Unter anderem zeichnet sich diese Organisation verantwortlich für den Versuch, vor einigen Monaten einen Sprengsatz an der israelisch-ägyptischen Grenze verlegt zu haben.[2]

9.    Über die Tatsache hinaus, dass Innenminister Fathi Hamad eine Doppelzüngigkeit als Terroranführer und Durchsetzer einer gemäßigten Politik betreibt, lohnt es sich zu bemerken, dass über Jahre tatsächlich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Polizei- und anderen, internen Sicherheitsmechanismen der Hamas mit deren militärischen Flügel, der Qassam-Brigaden, besteht. Diese Zusammenarbeit, die schon am Vorabend der Operation "Gegossenes Blei" stattfand, manifestierte sich in der Vergangenheit durch gemeinsame Vorbereitungen und Manöver, logistischer Zusammenarbeit, Sammeln von Geheiminformationen, Durchführung von Hinterhalten und Überwachungen, sowie Fusion der internen Sicherheitsmechanismen im Kampf gegen die IDF, während einer Zwangslage.[3]

10.  Ein aktueller Ausdruck für die Doppelzüngigkeit der Verantwortlichen innerhalb der Sicherheitsmechanismenfindet sich im Angriff der israelischen Luftwaffe, die einen Posten der Seepolizei, im Norden von Gazastadt, galt (14. November 2011). Nach dem Angriff berichteten die palästinensischen Medien, dass das Angriffsziel tatsächlich die Seepolizei war und dass Muhammad Zaher al-Kilani, ein Polizist bei der Seepolizei als Folge des Angriffs getötet wurde. Nach dem Angriff, veröffentlichten die Qassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas, eine offizielle Nachricht über den Tod eines ihrer Aktivisten (Internetseite der Qassam-Brigaden, 14. November 2011). Innenminister Fathi Hamad und Ismail Haniyya, Ministerpräsident der Hamas-Regierung, nahmen an der Beisetzung des Getöteten teil.[4]

[1] Eine Nachricht über die Errichtung dieser Einheit wurde in der israelischen Zeitung Ha'aretz am 10. Mai 2012 veröffentlicht und im Hamas Forum (PALDF) zitiert. Es scheint uns, dass die Bekanntmachung der Existenz dieser Einheit und deren Ziele der Hamas peinlich war, da sie nicht als Organisation bekannt werden möchte, die die Terrorakten nicht verhindert. Der Sprecher des Innenministeriums im Hamas-Regime, Ehab al-Ghasin, nannte die Veröffentlichung in der Ha'aretz israelische Propaganda und Verbreitung von Gerüchten. Er betonte, dass die palästinensische Regierung im Gaza-Streifen eine "Oppositionsregierung" mit dem Zweck ist, den "Widerstand" zu pflegen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Fathi Hamad sich in der Vergangenheit gerühmt hatte, dass sein Büro sich um den Schutz der verschiedenen terroristischen Organisationen und um Hilfe bemüht, "Dschihad motivierten Missionen zu entlasten". Zu diesem Zweck, so bemerkte er, treffen er und die Mitarbeiter seines Büros sich in regelmäßigen Abständen mit den Organisationen, um alle Hindernisse zu beseitigen, die im Wege ihrer militärischen Aktionen stehen (Zafa Nachrichtenagentur, 28. Oktober 2009). Die Durchsetzung der gemäßigten Politik und die Unterstützung von Terrorakten sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

[2] In der Nacht vom 21. zum 22. Februar 2012, während einer Routinepatrouille der IDF und der israelischen Polizei, die gegen den Schmuggel an der Grenze zu Ägypten gerichtet war, wurde eine Person beobachtet, die eine verdächtigte Tasche wegwarf und von der Stelle floh. Später stellte sich bei einer gründlichen Durchsuchung heraus, dass die weggeworfene Tasche einen hochgradigen Sprengsatz enthielt, der offenbar zum Angriff gegen IDF-Soldaten oder Zivilpersonen vorbereitet war. Der Sprengsatz wurde kontrolliert detoniert (IDF-Sprecher, 21. Februar 2012). Er wurde in der Region zwischen Kerem Shalom und Nitzana entdeckt und enthielt kugelförmiges Sprengmaterial. Ein Handy lag nicht weit von der Stelle. Daher die Vermutung, dass es sich hier um eine Fernzündung gehandelt haben könnte (Ha'aretz, 21. Februar 2012).

[3] Detaillierte Angaben über die Zusammenarbeit finden sich im Dokument des Informationscenters vom 14. März 2010: "Das Verhalten der Hamas und der Charakter der Terrorismusbedrohung aus dem Gaza-Streifen – Überprüfung des Goldstone-Berichts im Vergleich zu den tatsächlichen Ergebnissen", Band B.

[4] Detaillierte Angaben finden sich im Dokument des Informationscenters vom 16. November 2011: "Der Luftangriff, der kürzlich auf einen Posten der Seepolizei unternommen wurde, verdeutlichte die Doppelzüngigkeit der Anführer der palästinensischen Sicherheitskräfte, da viele von ihnen parallel auch beim militärischen Flügel der Hamas dienen. Die Seepolizeiorgane, deren Aktivisten auch Mitglieder der Qassam-Brigade sind, waren in der Vergangenheit an operativen Maßnahmen gegen die IDF beteiligt, die nicht in Verbindung mit den Aufgaben einer Seepolizei stehen.