Die Folgen des Verlusts der Region Sirte für den Status des IS in Libyen und den Charakter des “Islamischen Staates” (Vorläufige Einschätzung)

Einwohner von Sirte feiern die Befreier der Stadt (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Einwohner von Sirte feiern die Befreier der Stadt (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Das Ausmaß der Zerstörung in Sirte nach den Kämpfen  (Ayn Libya, 3.12.16; Al-Tanashu Channel, 5.12.16)

Das Ausmaß der Zerstörung in Sirte nach den Kämpfen (Ayn Libya, 3.12.16; Al-Tanashu Channel, 5.12.16)

Die Zerstörung in Sirte durch die Kämpfe (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Die Zerstörung in Sirte durch die Kämpfe (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Archivbild von Jalal Al-Din dem Tunesier (Al-Jumhuriya, Tunis, 30. September 2016)

Archivbild von Jalal Al-Din dem Tunesier (Al-Jumhuriya, Tunis, 30. September 2016)

Kampfzone in der Region Sirte mit einer großen Hinweistafel des IS: „Die Stadt Sirte im Zeichen der Scharia“ (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Kampfzone in der Region Sirte mit einer großen Hinweistafel des IS: „Die Stadt Sirte im Zeichen der Scharia“ (Al-Jazeera, 12. Dezember 2016)

Karte des “Kalifats” in seiner größten Ausdehnung mit archaischen islamischen Regionsbezeichnungen (hanein.info

Karte des “Kalifats” in seiner größten Ausdehnung mit archaischen islamischen Regionsbezeichnungen (hanein.info


Allgemeines
1. Am 5. Dezember 2016 war die Rückeroberung der Stadt Sirte, der „Hauptstadt“ des IS in Libyen (und in ganz Nordafrika) nach siebenmonatigen Kämpfen abgeschlossen. Faiz al-Saraj, der Vorsitzende des Präsidentenrates der Einheitsregierung Libyens, erklärte am 17. Dezember 2016 die Kämpfe in Sirte und die Befreiung der Stadt vom IS offiziell für beendet. Die Verbände der Einheitsregierung, die auf der islamistischen Miliz „Fadschr Libiya“[1] beruhen, brachten die Stadt Sirte und die Bastionen des IS in deren Umland unter ihre Kontrolle. Die Stadt konnte durch libysche Kräfte mit amerikanischer Luftunterstützung erobert werden (laut einem Reuters-Bericht vom 9. Dezember 2016 flogen die Amerikaner zu diesem Zweck mehr als 500 Luftangriffe).

 

2. Der Sprecher der Militäroperation zur Befreiung Sirtes erklärte, auf Seiten der Regierungstruppen seien im Verlaufe der Kämpfe 720 Soldaten getötet und rund 3.000 verletzt worden. Laut westlichen Quellen haben sich in Sirte rund 6.000 IS-Aktivisten aufgehalten (The Guardian, 9. Juni 2016). Die libysche Einheitsregierung bezifferte die Verluste des IS während der Operation auf mehr als 2.500 Aktivisten (Al-Hayat, 10. Dezember 2016).

3. Der Sprecher der Operation zur Eroberung Sirtes sagte, die Durchkämmung der Stadt dauere an und die Räumung der darin verbliebenen Minen und Sprengfallen werde noch mindestens einen Monat dauern. Brigadegeneral Ahmad Abu Shahma, der am 13. Dezember zum Militärgouverneur von Sirte ernannt wurde, erklärte, bislang seien aus dem „Seeviertel“ (der letzten Bastion des IS in der Stadt) Hunderte Leichen von IS-Aktivisten evakuiert worden. Er fügte hinzu, die Beseitigung der Leichen aus diesem Viertel dauere noch an. Die Sprecherin des Afrika-Regionalkommandos der US-Streitkräfte sagte, die USA werde die Luftunterstützung der Einheiten der libyschen Einheitsregierung auch in der Phase der Wiederherstellung der Sicherheit in der Stadt nach deren Eroberung aufrechterhalten (Al-Wasat, 15. Dezember 2016; marinecorpstimes.com, 15. Dezember 2016; Sputnik, 18. Dezember 18 2016).

4. Es ist davon auszugehen, dass Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende von IS-Aktivisten aus der Stadt Sirte und ihrem Umland in die Wüstengebiete in Zentrallibyen und im Süden des Landes geflüchtet sind. Es handelt sich um Gebiete außerhalb des Einflussbereichs der Regierung und des Militärs, in denen der IS präsent ist und sich dort relativ ungestört neu sammeln könnte, um seine Aktivitäten wieder aufzunehmen (Al-Hayat, 10. Dezember 2016; Al-Jazeera, 12. Dezember 2016). Zudem ist der IS in den größeren Städten Libyens präsent (siehe Karte), wenn auch die großen Distanzen die Koordination und die effiziente Koordination erschweren (siehe Karte).

  • Libysche Quellen und Libyen-Experten äußern die Befürchtung, dass sich der IS nach dem Verlust von Sirte neu sammeln und die Kämpfe besonders südlich von Sirte wieder aufnehmen könnte. In jene Region haben sich Schätzungen zufolge in der Frühphase der Operation zur Eroberung Sirtes noch vor dem Ausbruch der Kämpfe vor Ort mehrere Hundert IS-Aktivisten abgesetzt (und später dürften sich ihnen weitere Aktivisten angeschlossen haben). Im September 2016 wurde Mohammed Bin Salem Al-Ayouni, alias Jalal Dl-Din der Tunesier zum neuen Emir des IS in Libyen ernannt (anstelle des früheren Emirs, der bei den Kämpfen in Sirte ums Leben kam), vermutlich um den Kampf außerhalb von Sirte fortzusetzen. Laut einem Libyen-Experten handelt es sich um einen der Anführer, die die nächste Angriffswelle des IS südlich von Sirte vorbereiten werden (Reuters, 9. Dezember 2016).
  • Mohammed Bin Salem Al-Ayouni wurde 1982 in der osttunesischen Stadt Masakin geboren. Von Tunesien kam er nach Frankreich, wo er die französische Staatsbürgerschaft erhielt. In den Jahren 2011-2012 nahm er Kontakt zu einer dschihadistischen Gruppe auf, die in der tunesisch-libyschen Grenzregion aktiv war und brachte sie dazu, den Anführer des IS die Treue zu schwören. 2013-2014 begab er sich nach Syrien und in den Irak und schloss sich dort dem IS an. 2014 trat er in einem Videoclip auf, der sich mit der „Beseitigung der Grenze“ zwischen dem Irak und Syrien befasste. Am 27. September 2016 ernannte ihn der Anführer des IS zum neuen Emir von Libyen anstelle des vormaligen libyschen IS-Anführers Abu Habib Al-Jazrawi (Abd Al-Qader Al-Najdi), der bei den Kämpfen in Sirte getötet wurde.

 

Die Folgen der Befreiung Sirtes aus der Hand des IS – eine Einschätzung
5. Die Eroberung von Sirte und deren Umland bildet das Ende eines fast zweijährigen Zeitabschnitts, in dem es dem IS gelang, ein zusammenhängendes Gebiet mit großer Bevölkerung zu kontrollieren, das einzige dieser Art außerhalb Syriens und dem Irak. Die Stadt Sirte (der Geburtsort von Muammar Gaddafi) war am 18. Februar 2015 bei einem Überraschungsangriff von Hunderten von Aktivisten auf Geländewagen fast kampflos dem IS in die Hände gefallen. In der Zeit, in welcher der IS Sirte und ihr Umland (ein rund 260 Km langer Küstenstreifen am Mittelmeer) kontrollierte, baute er seine Herrschaft aus und errichtete zivile, militärische und administrative Strukturen, die ihm als Ausgangspunkt für Terror- und Guerillaaktivitäten in anderen Regionen Libyens sowie in anderen nordafrikanischen Ländern dienten. Die Festsetzung des IS im Raum Sirte fand in einer Zeit statt, in der die Organisation im Irak und in Syrien äußerst erfolgreich war (2014), während der Fall der Stadt mit dem stetigen Schrumpfen seines Machtbereichs in jenen Ländern einherging.


6. Die Herrschaft des IS in der wichtigen Stadt Sirte und in ihrem Umland hat dessen Macht und Position in Libyen sowie in ganz Nordafrika erheblich gestärkt, sind ihm doch im Raum Sirte bedeutende staatliche Infrastrukturanlagen, darunter ein internationaler Flughafen, die Luftwaffenbasis Al-Qardabiya, Wirtschaftsprojekte wie ein großangelegtes Bewässerungsprojekt (der „große künstliche Fluss“) sowie ein westlich der Stadt gelegenes Kraftwerk in die Hände gefallen. Die Beherrschung der Wirtschaftsgüter und der Bevölkerung in Sirte half dem IS dabei, eine Zivilverwaltung und Militärinfrastruktur in Sirte aufzubauen, den Einwohnern das islamische Recht (Scharia) nach strikter Auslegung des IS aufzuzwingen und seinen Machtbereich als Ausgangsbasis für weitere Terror- und Guerillaaktivitäten in anderen Regionen Libyens und angrenzenden Staaten zu nutzen.

7. Wir sind der Auffassung, dass der Fall der Region Sirte die Position des IS in Libyen erheblich schwächen wird, da er die Macht über die Bevölkerung und die Einnahmen in der Stadt Sirte und deren Umgebung eingebüßt hat. Zudem können sich die Aktivisten des IS in der Region Sirte nicht mehr frei bewegen und sie als Basis für Guerilla- und Terrorangriffe nutzen. Der Verlust dieser Vorteile wird den IS in Libyen und dessen Führung in Syrien und im Irak dazu zwingen, sein Verhalten in Libyen zu ändern und den Schwerpunkt auf Terror- und Guerillaaktivitäten zu legen sowie auf die Beherrschung größerer Bevölkerungskonzentrationen zu verzichten. Der Islamische Staat hat seine territoriale Macht in Libyen verloren und wurde geschwächt, aber nicht besiegt und dürfte seine Aktivitäten im Land deshalb wieder aufnehmen, möglicherweise nach einer Periode der Neusammlung.

 

8. Da der IS seine territoriale Basis und sein Machtzentrum in Sirte eingebüßt hat, wird er seine Präsenz und Aktivitäten nun auf mehrere weit auseinanderliegende Zentren im Süden des Landes und entlang der Küste verlegen. Der IS wird an diesen Orten (etwa in den Städten Misrata, Ajdabiya, Benghazi und Tripoli) nicht mehr vom Machtmonopol (wie in Sirte) profitieren, sondern dort neben anderen libyschen Milizen präsent sein. Von seinen verschiedenen Stützpunkten auswird er weitere Terror- und Guerillaaktivitäten gegen seine Feinde ausführen und vielleicht sporadisch auch Terroranschläge in weiter entfernten Regionen oder sogar außerhalb Libyens begehen,um zu zeigen, dass er nach wie vor in Libyen präsent und aktiv ist.

9. Abgesehen davon dürfte der Verlust des Raumes Sirte für den IS zum Testfall für seine Fähigkeit werden, sich an die ihm aufgezwungenen neuen Bedingungen zu gewöhnen (die sich in Zukunft auch im Irak und in Syrien nach dem möglichen Fall von Mosul und Ar-Raqqah ergeben könnten). Wir gehen davon aus, dass der IS in Libyen weiterhin präsent und aktiv sein wird, da das Land nach wie vor von Chaos und Anarchie geprägt ist, eine effektive Zentralregierung fehlt und die verschiedenen Stämme und Organisation nach wie vor in Rivalitäten verstrickt sind. All das schafft ein Macht- und Sicherheitsvakuum, das die Aktivitäten des IS begünstigt. Andererseits dürfte die Organisation nach dem Verlust von Sirte wieder zu ihren „natürlichen Dimensionen“ zurückkehren und den Charakter einer salafistisch-dschihadistischen Guerilla- und Terrorgruppierung annehmen, die sich zusammen mit zahlreichen anderen Gruppierungen und Milizen am Kampf um die Macht beteiligen.

Die Folgen für das Konzept des “Islamischen Staates” („Kalifat“)

10. Das ideologische Selbstverständnis des IS basiert auf dem Bestreben, das „Goldene Zeitalter des Islam“ durch die Neuerrichtung des „Kalifats“ (also des „Islamischen Staates“) wieder herzustellen. Dieser Staat beruht auf dem islamischen Recht (Scharia) nach strikter salafistisch-dschihadistischer Auslegung. So versuchte der IS zunächst, die Regimes in Bagdad und Damaskus zu stürzen, um in diesen Städten die territoriale Basis des „Kalifats“ aufzubauen und sich später in andere Länder im Nahen Osten, in Nordafrika (inkl. Libyen) sowie in Süd- und Westasien auszubreiten.

11. Heute, also rund zweieinhalb Jahre nach der Ausrufung des „Kalifats“, scheint diese Ideologie realitätsferner denn je. Der IS hat den größten Teil seiner territorialen Basis in Syrien eingebüßt und dessen „Hauptstadt“ Ar-Raqqah wird von seinen Feinden ins Visier genommen. Im Irak wird die „Hauptstadt“ Mosul von der regionalen und internationalen Koalition belagert und die Mehrzahl der IS-Bastionen in der sunnitischen Provinz Al-Anbar ist verloren. Der Verlust des Machtbereich in Libyen, dem einzigen Staat außerhalb Syriens und des Irak, in dem es dem IS gelungen war, eine territoriale Machtbasis aufzubauen, zeigt auch die Schwierigkeit, mit welcher der IS (und jede andere salafistisch-dschihadistische Organisation) konfrontiert ist, wenn es darum geht, größere Bevölkerungen nach anachronistischen Grundsätzen aus dem siebten Jahrhundert zu beherrschen und ihnen das islamische Rechts nach strikter Auslegung aufzuzwingen. Die Ereignisse im Irak, in Syrien und in Libyen veranschaulichen überdies die Schwierigkeit des IS, gegenüber einer regulären, mit modernen Waffen ausgerüsteten Armee zu bestehen.

 

12. Andererseits sind wir der Auffassung, dass der Verlust der territorialen Machtbasis des IS im Irak, in Syrien und in Libyen nicht zu dessen Verschwinden in diesen Ländern führen wird, dies aufgrund des Macht- und Sicherheitsvakuums sowie der sozialen, gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Spaltungen. Der Verlust der Territorien dürfte den IS dazu zwingen, sein Auftreten zu ändern und sich durch die Rückkehr zum ursprünglichen Handlungsmuster einer Terror- und Guerillaorganisation, das er vor der Einnahme Mosuls pflegte, der neuen Situation anzupassen. Sollte er diesen Weg wählen, könnte er mit Al-Qaida und ihren verschiedenen Ablegern im Nahen Osten kooperieren. Diese hatten bewusst darauf verzichtet, in ihren Machtbereichen „Islamische Staaten“ zu errichten, die sie dazu gezwungen hätten, bedeutende Ressourcen in ihren täglichen Bedarf und ihre Verteidigung zu investieren. Die Errichtung des „Islamischen Kalifats“ könnte somit ein ferner Traum bleiben, auf dessen Verwirklichung der IS (wenn auch nur vorübergehend) verzichten dürfte.

[1]Fadschr Libiya („Morgenröte Libyens“) ist ein Bündnis islamistischer Milizen, das sich bei der Erhebung gegen Muammar Gaddafi gebildet hatte. Das Bündnis unterstützt die Einheitsregierung mit Sitz in Tripoli und ihre Mitglieder bilden den Kern der militärischen Verbände, die die Stadt Sirte und ihr Umland zurückeroberten.